32

 

Tegans Bewusstsein regte sich lange vor dem Rest seines Körpers. Sein Hals brannte, immer noch wund und von den Rückständen des Betäubungscocktails belegt, den Kuhns Wachen ihm verpasst hatten. Er befand sich nicht mehr in der Klinik, so viel sagte ihm seine Nase. Statt des Krankenhausgeruchs konnte er altes Holz und Ziegelsteine riechen, auch einen Hauch frischer Farbe, der irgendwo von oben kam …

Und ganz in seiner Nähe den Geruch von frischem Tod. Der widerliche Geruch von vergossenem, geronnenem Stammesblut - einer Menge davon - hing über dem Raum wie ein dickes Leichentuch.

Er musste erst gar nicht versuchen, seine Glieder zu bewegen, um zu wissen, dass er gefesselt war. Das Gewicht schwerer Fesseln und Ketten hing ihm von Handgelenken und Knöcheln, während er mit gespreizten Armen und Beinen zwischen zwei riesige Holzbalken gespannt dahing.

Es war dunkel hier, aber über ihm, von außerhalb des Gebäudes, wo auch immer man ihn eingesperrt hatte, hörte er die krächzenden Rufe vorbeifliegender Krähen. Demnach war draußen heller Tag, folgerte sein Verstand, während sich die Krähenlaute entfernten. Er musste hier - wo auch immer hier war - schon seit Stunden liegen.

Er öffnete ein Auge, fast war das Augenlid zu schwer. Seine Sicht war verschwommen, und sofort erfassten ihn Schwindel und Übelkeit, sodass er wieder gegen seine Fesseln sackte.

„Endlich wach“, sagte eine Stimme, die Tegan selbst in seinem halb betäubten Zustand erkannte. „Diese Idioten, die für Kuhn arbeiten, hätten dich mit ihren Betäubungspfeilen fast umgebracht.

Und das ist ein Privileg, das ich mir selbst vorbehalten will.“

Tegan antwortete nicht. Das hätte er auch nicht getan, wenn er seine schwerfällige Zunge dazu hätte bringen können, Worte zu bilden. Marek verdiente keinen Respekt.

„Aufwachen“, kam der barsche Befehl. „Wach auf, verdammt noch mal, Tegan, und sag mir, wo er ist!“

Harte Finger packten eine Handvoll von seinem Haar und rissen ihm den Kopf hoch, als er nicht die Kraft hatte, es selbst zu tun. Ein schwerer Faustschlag landete in seinem Gesicht, aber durch den Nebel seiner Betäubung bemerkte er ihn kaum.

„Brauchst etwas gutes Zureden, was?“

Marek ließ Tegans Kopf fallen. Dann entfernten sich Schritte über den knarrenden Holzboden und kamen einen Moment später zurück. Wieder wurde Tegan der Kopf zurückgerissen, und etwas wurde ihm unter die Nase gepresst. Als ihm eine Faust in den Bauch fuhr, schnappte er nach Luft.

Diese unfreiwillige Reaktion seines Körpers brachte ihm das Stechen eines feinen Pulvers ein, das ihm die Nasenlöcher hinaufwanderte und durch seinen offenen Mund drang. Er hustete und würgte von der widerlichen Substanz und wusste sofort, was Marek ihm verabreicht hatte.

„So. Etwas Crimson sollte die Dinge beschleunigen.“

Marek wich zurück, als Tegan versuchte, die Droge auszuspucken. Aber es nützte nichts. Er konnte spüren, wie das Crimson in seine Nebenhöhlen sickerte und sich hinten in seinem Hals festsetzte. Als ob ihm eine elektrische Ladung direkt ins Gehirn geschossen wäre, brachte ihm die Droge einen Krampfanfall. Er spürte, wie sie in seinen Blutstrom wanderte, Hitze strömte durch seine gefesselten Glieder. Als der erste Schock abflaute, öffnete Tegan die Augen und starrte seinen Entführer mit einem mörderischen Blick an.

Grinsend verschränkte Marek die Arme vor der Brust. „Jetzt sind wir wieder wach und munter, was?“

„Fick dich.“ Tegan versuchte, die Arme zu senken, aber die Ketten waren stark und hielten. Jetzt wurde sein Kopf allmählich klar, aber seine körperliche Stärke war noch nicht zurückgekehrt. Er würde Zeit brauchen - oder eine größere, riskantere Dosis Crimson -, um die Auswirkungen des Betäubungsmittels abzuschütteln.

„Wo ist er, Tegan? Habt ihr das Versteck schon gefunden?“

Mareks Augen waren hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen, aber Tegan konnte die wütende Hitze seines Blickes spüren.

„Ich weiß, dass der Orden das Tagebuch besitzt. Ich weiß, dass du das Rätsel gesehen hast. Und ich weiß, dass du mit Peter Odolf gesprochen hast. Was hat er dir darüber erzählt?“

„Er ist tot.“

„Ja“, stimmte Marek höflich zu. „Überdosis Crimson, wie du zweifellos vermutet hast, als du unseren Herrn Kuhn besuchen gingst. Er liegt übrigens da drüben.“

Tegans Blick folgte Mareks lässiger Geste in Richtung des Gestanks nach Tod im Raum. Neben einem breiten, blutbesudelten Schwert lag Dr. Kuhns kopflose Leiche auf dem Boden.

Marek zuckte die Achseln. „Er hat seinen Zweck erfüllt. All die zitternden, unglücklichen Schafe, die die Dunklen Häfen bevölkern, haben sich überlebt, meinst du nicht auch? Sie haben ihre Wurzeln vergessen, wenn sie sie denn jemals wirklich verstanden haben. Wie viele Generationen hat es gegeben seit der illustren ersten, zu der du und ich gehören? Zu viele, und mit jeder Generation wird das Vampirvolk schwächer und sein Blut wird weiter mit den minderwertigen Genen des Homo sapiens verwässert. Es ist Zeit für einen Neuanfang, Tegan. Der Stamm muss sich seiner verkümmerten Zweige entledigen und eine neue Herrschaft der Gen-Eins-Macht errichten. Ich will den Stamm wachsen und gedeihen sehen. Ich will uns als Könige sehen - so wie es sein soll.“

„Du bist wahnsinnig“, knurrte Tegan. „Und du willst nur Macht für dich allein. Das wolltest du schon immer.“

Marek schnaubte verächtlich. „Ich habe es verdient, zu herrschen. Ich war der Altere, nicht Lucan. Ich hatte die klarere Vorstellung davon, wie sich unsere Rasse entwickeln sollte. Die Menschen sollten sich vor uns verstecken und zu unserem Vergnügen leben, nicht umgekehrt. Lucan hat es nicht so gesehen.

Er sieht es immer noch nicht so. Seine Menschlichkeit ist seine größte Schwäche.“

„Und deine größte Schwäche ist schon immer deine Arroganz gewesen.“

Marek knurrte. „Und deine, Tegan?“ Sein Ton war etwas zu unbeschwert, zu aufreizend in seiner Lässigkeit. „Ich erinnere mich gut an sie, weißt du … an Sorcha.“

Tegan konnte es fast nicht ertragen, den Namen des unschuldigen Mädchens von den Lippen seines Feindes zu hören, aber er schluckte den Zorn hinunter, der sich in ihm zusammenbraute. Sorcha war fort. Er hatte sie endlich gehen lassen, und Marek würde es nicht gelingen, ihn mit der Erinnerung an sie zu quälen.

„Ja, sie war deine Schwäche. Das wusste ich, als ich in jener Nacht zu ihr ging. Du erinnerst dich doch? Die Nacht, in der sie aus deinem Haus entführt wurde, als du mit meinem Bruder auf einem seiner endlosen Streifzüge warst?“

Tegan hob den Blick und sah Marek an. „Du …“

Das Lächeln des Vampirs war grausam und voll Belustigung.

„Ja, ich. Sie und Dragos’ Schlampe waren ein Herz und eine Seele, also hatte ich gehofft, dass Sorcha mir das Geheimnis verraten könnte, das Dragos mit ins Grab genommen und um das Kassia mich betrogen hatte, indem sie sich das Leben nahm, bevor ich ihr die Wahrheit aus ihr herauspressen konnte. Aber Sorcha wusste nichts. Nun, nicht ganz. Sie wusste von einem Sohn, den Kassia insgeheim geboren und fortgeschickt hatte - einem Erben, von dem Dragos selbst nichts wusste.“

Oh Gott. Tegan schloss die Augen, erst jetzt verstand er, was Sorcha durchlitten haben musste - und zwar von Mareks Hand.

„Sie ist schnell zusammengebrochen, aber das wusste ich schon vorher. Stark war sie nie. Nur ein süßes junges Ding, das deinem Schutz vertraute.“ Marek hielt inne, als dachte er nach.

„Es kam mir fast wie eine Verschwendung vor, eine Lakaiin aus ihr zu machen. Ich hatte sie kaum angefasst, da plauderte sie auch schon all ihre Geheimnisse bereitwillig aus. Ihre Schmerztoleranz war nur sehr niedrig.“

„Du Hurensohn“, zischte Tegan. „Du kranker, verdammter Hurensohn! Warum dann? Warum hast du ihr das angetan?“

„Weil ich es konnte“, erwiderte Marek.

Tegans Aufbrüllen hallte bis ins hohe Dachgebälk hinauf, rüttelte an den schwarz verhängten Fenstern. Er kämpfte gegen seine Fesseln an, aber der wilde Adrenalinschub ließ ihn nur hustend und erschöpft zurück. Die Handschellen schnitten in seine Handgelenke, als er wieder zusammensackte und mit vollem Gewicht an ihnen hing, seine Schenkel zu schwach, um ihn zu halten.

„Und weil ich es kann, Tegan“, fügte Marek hinzu, „werde ich dich töten, und alle, die dir etwas bedeuten, wenn du mir nicht sagst, was dieses gottverdammte Rätsel bedeutet. Sag mir, wo ich den Alten finde!“

Tegan keuchte, hing hilflos in seinen Ketten. Von dem Beruhigungsmittel trübte sich sein Verstand bereits wieder, ihm wurde schwindlig. Marek sah mit distanzierter Ruhe zu, hielt sich aber außer Reichweite. Betont lässig ging er zur Tür und winkte zweien seiner Lakaien, die dort Wache standen. Er wies auf Kuhns geschändete Leiche.

„Bringt diesen stinkenden Kadaver hier raus und lasst ihn brennen.“

Während seine Diener herbeieilten, um seinen Befehl auszuführen, richtete Marek seine Aufmerksamkeit wieder auf Tegan.

„Du siehst mir so aus, als ob du etwas Zeit bräuchtest, um darüber nachzudenken, was ich dich gefragt habe. Also denk nach, Tegan. Denk scharf nach. Und wenn ich zurückkomme, plaudern wir weiter.“

Als Gideon sie in Tegans Quartier aufsuchte, genügte Elise ein einziger Blick in sein Gesicht, und sie wusste, dass etwas Schreckliches geschehen war.

„Es ist Lucan“, sagte er. „Er muss mit dir reden.“ Sie nahm ihm das Handy aus der Hand und schluckte, bevor sie sprach.

„Was ist mit ihm passiert?“, fragte sie in den Hörer und hielt sich nicht mit einer Begrüßung auf, jetzt, da jede einzelne Zelle ihres Körpers vor Schreck erstarrte. „Lucan, sag mir, dass er in Ordnung ist.“

„Ich, hm, das weiß ich nicht sicher, Elise. Hier drüben ist etwas passiert.“

Still und starr hörte sie zu, wie Lucan ihr von Tegans Verschwinden erzählte. Seit mehreren Stunden hatten sie ihn nicht mehr gesehen, nichts mehr von ihm gehört. Lucan wollte den Rest des Ordens bei Sonnenuntergang mit Reichen nach Prag schicken, aber er selbst wollte in Berlin bleiben, um nach Tegan zu suchen. Er wusste nicht genau, wo er mit seiner Suche beginnen sollte oder wie lange es dauern würde, die Stadt nach einem Hinweis darauf zu durchkämmen, wo er sein mochte. Weil er vermutete, dass sie und Tegan eine Blutsverbindung eingegangen waren, war das beste Mittel, Tegan aufzuspüren, Elise.

„Wir können uns nicht sicher sein“, sagte Lucan, „aber ich glaube, dass Marek ihn hat. Und wenn das der Fall ist, haben wir nicht viel Zeit, bis …“

„Ich bin schon unterwegs.“ Sie warf Gideon, der draußen auf dem Gang wartete, einen Blick zu. „Kannst du mir einen Flug besorgen, sofort?“

„Der Jet des Ordens ist immer noch in Berlin, aber ich kann versuchen, einen anderen zu chartern.“

„Keine Zeit“, sagte sie. „Und einen normalen Linienflug?“

Er runzelte besorgt die Stirn. „Willst du wirklich einen halben Tag lang mit mehreren Hundert Leuten in einem Flugzeug eingepfercht sein? Denkst du, du hältst das aus?“

Sie war sich keineswegs sicher, aber davon würde sie sich verdammt noch mal nicht abhalten lassen. Selbst wenn sie per Anhalter mit einer Maschine voll verurteilter Mörder nach Berlin fliegen müsste, würde sie es tun, wenn sie so dafür sorgen konnte, dass Tegan gerettet würde.

„Tu’s einfach, Gideon. Bitte. Buch einen Flug für mich, den ersten, den du kriegen kannst.“

Er nickte und rannte im Laufschritt über den Korridor davon, um sich um die Details zu kümmern.

„Ich komme, so schnell ich kann, Lucan.“

Sie hörte, wie er ausatmete, die Vorsicht in seiner Stimme.

Lucan war nicht davon überzeugt, dass sie etwas für Tegan tun konnten, selbst wenn sie es schafften, ihn zu finden.

„Okay“, sagte er. „Ein Wagen wird dich abholen und zu Reichens Anwesen bringen. Wir fangen mit unserer Suche an, sobald du angekommen bist.“

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